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»Ich bin das Gesamtkunstwerk« – diesen dahingeworfenen Satz des Protagonisten in Mark Kanaks vielschichtigem Hörspiel kann man ohne zu zögern auf das ganze Stück anwenden. Denn das Ergebnis der kongenialen Zusammenarbeit von Mark Kanak (Text, Ton und Regie), Jukka-Pekka Kervinen (Musik) und Blixa Bargeld (Sprecher) ist ein Gesamtkunstwerk der besonderen Art: ein akustisches Feuerwerk, ein Höllentrip direkt ins Gehirn eines Menschen, der ohne sein Zutun in ein Tollhaus geraten ist. Ähnlich wie Herrn K. aus Kafkas Prozeß scheint auch Niedermoor, einem 62-jährigen Patienten in einer nicht näher bezeichneten Anstalt, ein unerklärliches Delikt vorgeworfen zu werden. Obwohl Niedermoor sich nicht daran erinnert, dieses jemals begangen zu haben, wird er in einem Tollhaus festgehalten – einem geisterhaften Ort, der alle Züge einer totalen Institution trägt und von dem man nicht genau weiß, ob man sich darunter eher eine Irrenanstalt oder ein Gefängnis vorzustellen hat. Kanaks düsteres Hörspiel setzt mit dem Vorlesen der Hausordnung ein, die Satz für Satz das Stück strukturiert, in dem wir Niedermoor auf seiner verzweifelten Suche nach sich selbst begleiten. Die explodierenden Soundscapes – ein Mix aus Krach unerklärlichen Ursprungs, aus metallischem Scheppern und zerberstendem Glas und aus Musikschnipseln – machen die undurchsichtige Situation des Protagonisten räumlich erfahrbar und nehmen uns mit auf dessen ruhelose Suche nach Orientierung in diesem desolaten Klangraum. In rasant wechselnden Szenen folgt man Niedermoor durch das Gestrüpp seiner Erinnerungen, angetrieben von einem rastlosen Rhythmus aus Geräuschen, Klängen und Satzsequenzen, die von Blixa Bargeld meisterhaft performt werden. Von diesem Mahlstrom mitgerissen, versucht man sich an einer stringenten Erzählung fest zu halten, in dem man von Satz zu Satz blitzschnell Hypothesen aufstellt, wie die einzelnen Szenen zusammenhängen. Doch jede Deutung, an der man sich während des Hörens festhalten will, wird durch die darauffolgende Szene aus Niedermoors Stream of Consciousness sofort wieder relativiert. Als HörerIn möchte man von dem schwankenden Boot abspringen, das diesen Strom hinuntergetragen wird, aber der unerbittliche Fluss dieser abwechselnd süßen, kitschig-musikalischen Melodien, die immer wieder mit schrillen, scheinbar zufälligen Klanglandschaften konfrontiert werden, macht uns einen Absprung unmöglich. Wir werden mitgespült wie Äste in einem immer schneller werdenden Fluss. Wie oben angedeutet, ähnelt der Zustand, in dem sich Niedermoor befindet; in mancher Hinsicht dem, was wir etwa aus der Literatur (Josef K., Der Prozess) oder aus Filmen (Leonard Shelby, Memento) kennen. Darüber hinaus erzählt Kanak von einem Zustand, den man als eine Episode von vorübergehendem Gedächtnisverlust bezeichnen könnte, bei der die Person, die eine solche Episode erleidet, das Gedächtnis an ein bestimmtes Ereignis vollständig verliert, während sie andere Erinnerungen davor und danach behält. Wir hören Niedermoor dabei zu, wie er versucht, die Landschaften seiner Erinnerung danach abzutasten, was genau dieses »verschwundene Ereignis« sein könnte .... Während Niedermoor die Regeln durchliest, die er in diesem Tollhaus einzuhalten hat, und dabei ein Phantasiegespräch mit sich selbst führt, versucht er, sich an die Ereignisse vergangener Tage, an eine gescheiterte Liebe und an seinen früheren Arbeitsplatz in einer Recycling Firma zu erinnern. Wir begleiten Niedermoor in die Räume, die er aufsucht, um Trost zu finden; zum Beispiel begibt er sich in seiner Erinnerung ans Meer, er erinnert sich an ein schief gelaufenes Rendezvous, an idyllische Landschaften und Spaziergänge, während er in wachsender Verzweiflung die Hausordnung rezitiert und gleichzeitig oben, unten, links und rechts auf dem zu einem Ensemble von mehreren Tollhäusern angewachsenen Areal die Insassen der Häuser A, B und C sich gegenseitig Anweisungen zurufen … oder ist das alles nur seine Einbildung? Während Niedermoor sich in rasendem Tempo einer Assoziation nach der anderen hingibt, stellt er scheinbar nebenbei eine Frage, die uns direkt ins Herzstück des Hörspiels führt: »Wie kontrolliert man das?« Die Antwort darauf bleibt Mark Kanak uns naturgemäß schuldig, denn das Einzige, was beim Hören unmittelbar klar wird, ist, dass die Dinge nicht kontrolliert werden können. Das Subjekt wird durch eine unsichtbare Instanz zum Objekt gemacht, das hin und her geworfen und entmündigt wird. Mark Kanak inszeniert seine Frage nach dem, was den Menschen ausmacht, als große Sprach- und Klangkunst und deshalb erzeugt sie beim Hören eine solche intensive Wirkung. Die Schlüsselwörter, die Niedermoors Verzweiflung beschreiben und die uns zeigen, entlang welcher Konfliktlinien seine Auseinandersetzung mit der äußeren Wirklichkeit verläuft, sind die Begriffe »Ausgang, Isolierung, Fixierung«, die mit Kontrolle durch andere und damit mit dem Verlust von Selbstkontrolle einhergehen. Sie setzen eine akustische Kette von Ereignissen in Gang: Diese drehen sich immer weiter in Richtung divergierender »Kontrolllinien« auf der einen Seite und der Darstellung einer (persönlichen) Welt auf der anderen Seite, die außer Kontrolle geraten ist. Wie diese Linien wieder zueinander finden und genau an jenem Punkt ankommen, der gleichbedeutend mit dem Ausgangspunkt des Stücks ist, ist ein weiterer Aspekt dieser vielschichtigen, schwindelerregenden Achterbahnfahrt. Die winzige Hoffnung bleibt, dass uns die Unterscheidung zwischen Kontrollierbarem und Unkontrollierbarem gelingt, auch wenn die Dinge, die wir kontrollieren können, dann nur in unserer Innenwelt Geltung haben. Und am Ende bleibt uns nur diese eine rollende, traurige Melodie. Ruth Johanna Benrath Text/Ton/Sound: Mark Kanak Stimme: Blixa Bargeld Weitere Musik: Jükka-Pekka Kervinen Aufnahme (Blixa) andereBaustelle Tonstudio Berlin, 14. Februar 2021: Boris Wilsdorf
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